Gedanken zur Kraft am Lebensende


14.11.2024 - Dieser Text entstand nach einem Telefonat mit einem Freund. Es hat mich  nachdenklich, über die „Flatrate-Medizin“, die heutzutage so oft Realität ist, gestimmt. In meinem Freund spürte ich viel Kraft, Lebensmut und sogar Pläne für die Zukunft. Trotz seiner Diagnose gibt er nicht auf – und genau das möchte auch ich nicht.

 

Seit 45 Jahren werde ich maschinell am Leben gehalten. Daher ist mir bewusst, dass mein Leben jederzeit zu Ende sein kann. Doch das bedeutet nicht, dass ich alles aufgeben muss. Ich genieße jeden Moment und die Zeit (Tage, Wochen, Monate oder Jahre), die mir bleibt. Meine Krankheit hat mir sicher Grenzen gesetzt, aber warum sollte ich deswegen meine Neugier auf das Leben verlieren? Wir befinden uns alle, seit unserer Geburt, im Sterbeprozess – und diesen Weg können wir so gut wie möglich gestalten.

 

Einige Philosophen sagen, dass wir bei der Geburt bereits einen ersten Tod erlebt haben, weil wir unsere bis dahin bekannte Welt verlassen haben. So gesehen sind wir schon einmal gestorben – und haben uns dennoch neu ins Leben gestürzt.

 

Lesen Sie hier die Gedanken, die aus dem Telefonat mit meinem Freund und sozusagen aus meinem Patientenbett entstanden sind. Ich freue mich wie immer über Ihre Rückmeldungen zu meinen Blogbeiträgen.


Eine schwere Diagnose, die keine Heilung mehr verspricht, ist wie ein Blitzschlag. Sie stellt unser Leben auf den Kopf, nimmt uns den sicheren Boden unter den Füßen und lässt uns in die Zukunft blicken – eine Zukunft, die uns mit Angst und Fragen erfüllt. Aber das Leben endet nicht mit einer Diagnose, und auch nicht, wenn Ärzte keine Heilung mehr sehen. Es gibt Menschen, die sich in solchen Momenten ihre Kraft bewahren, die neue Wege finden und in dieser Zeit immer noch Hoffnung und Freude wie neue Projekte entdecken. Und mit einem starken, unterstützenden Team an ihrer Seite kann auch diese Zeit bewusst, wie das ganze Leben zuvor, gestaltet werden.

 

Ärzte als Begleiter und Hoffnungsträger

 

Es gibt Ärzte, die über das Medizinische hinausgehen und ihre Patienten wie Familienmitglieder behandeln. So erzählen viele Patienten von Dr. Helmut K., der seine Patienten nicht nur behandelt, sondern begleitet. „Wir schaffen das gemeinsam“, war sein Leitsatz, und viele schwerkranke Menschen haben sich durch seine Worte gehalten gefühlt. Auch wenn die Heilung nicht mehr möglich war, schenkte er ihnen einen Weg, die verbleibende Zeit so gut und erfüllend wie möglich zu leben. Das ist wahre ärztliche Kunst – nicht nur den Körper zu behandeln, sondern den Menschen im Herzen zu erreichen. So Ärzte gibt es auch heute noch und ich kenne einen davon!

 

Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Anja, einer Krebspatientin aus dem Saarland. Ihre Diagnose ließ wenig Hoffnung, und doch bewahrte sie sich bis zur letzten Stunde ihre Neugier und Freude am Leben. Selbst als klar war, dass die Zeit knapp wurde, blieb sie positiv und versuchte, jeden Moment zu nutzen und schenkte von ihrer Zeit anderen welche. „Noch heute lerne ich etwas Neues“, sagte sie, und ihre Ärzte halfen ihr dabei, diese Einstellung zu bewahren. Ob wohl auch diese mit ihrer Lebensfreude teils überfordert waren. Mit dieser inneren Kraft konnte sie ihren Weg voller Zuversicht und Freude gehen. Ein solches Beispiel erinnert uns alle daran, dass das letzte Stück Weg, nicht allein gegangen werden muss, sondern dass uns Menschen zur Seite stehen können, die uns aufrichten und begleiten. Wie es das ganze Leben über immer Normalität war.

 

Zu oft wird die Diagnose als Urteil überbracht, ohne dass ein psychologisches Auffangnetz vorhanden ist. Besonders in diesen Momenten sollten Ärzte sich fragen: „Wie würde ich es mir für meine eigene Familie oder für mich selbst wünschen?“ Das Verhalten gegenüber Patienten, die nur noch eine begrenzte Lebenszeit haben, sollte von einem tiefen Respekt und einer klaren menschlichen Haltung geprägt sein. Alles andere wäre ein seelischer Schaden für den Patienten und ein Bruch im Vertrauen zwischen Arzt und Patient.

 

 

Lebensqualität bis zur letzten Minute

 

Es gibt so eine tiefere Dimension der ärztlichen Verantwortung, die über Diagnosen und Medikamente hinausgeht. Es bedeutet, dass ein Arzt den Menschen sieht, der hinter der Diagnose steht, und ihm auf dieser Reise ein Freund und Begleiter wird. Viele Patienten wünschen sich einen solchen Arzt – einen, der ihnen sagt: „Ich bin an Ihrer Seite, und ich tue alles, damit Sie Ihre Zeit noch bewusst und mit viel Leben füllen können.“

 

Und doch braucht es nicht nur Ärzte. Die Familie, Freunde und das gesamte Team sind ein Teil dieses Weges. Sie sind wie schon immer im Leben die Kraftquelle, die Energie und Wärme spendet, wenn die Tage schwerfallen. Jeder Mensch verdient es, nicht allein und in Hoffnungslosigkeit, sondern mit Liebe und Kraft auf die Zielflagge des Lebens zuzugehen. Hier einfühlsam zu sein und menschlich zu bleiben – das ist es, was wahre Lebensqualität bis zum Schluss bedeutet. Denn auch wenn die Krankheit unbesiegbar scheint, darf die Freude am Leben nicht verloren gehen.

 

Wenn das Leben am Ende doch noch Neues birgt

 

Hermann Hesse beschreibt in seinem Gedicht *Stufen* das Leben als eine Abfolge von Übergängen und Abschieden: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Selbst im Angesicht des Todes gibt es immer noch Möglichkeiten, etwas zu beginnen und zu erleben. Es ist dieser Zauber des Lebens, der nie vollständig schwindet, solange wir offen bleiben, solange wir noch lernen und Neues erleben wollen – selbst wenn uns nur wenige Minuten bleiben. Wie lang sich Minuten anfühlen und was in dieser Zeit alles möglich ist, erlebe ich am Ende jeder Dialyse drei Mal die Woche.

 

Ein Arzt, der seinen Patienten diese Perspektive offenlässt, schenkt nicht nur Trost, sondern ermöglicht auch, dass der sogenannte letzte Lebensabschnitt mit Würde und Freude gefüllt ist. Stellen wir uns vor, wir hätten noch 23 Stunden und 59 Minuten – dann bleibt bis zur letzten Minute Zeit, um neue Erfahrungen zu machen und bewusst zu leben.

 

Ein letzter Abschied in Würde

 

Und wenn es dann soweit ist, wenn der letzte Atemzug naht und der Abschied bevorsteht, so ist es ein Moment, der voller Frieden und Klarheit sein kann. Ärzte, die Patienten bis zu diesem Moment begleiten, schenken ihnen und ihren Familien eine Erfahrung von Trost und Würde. Diese Begleitung ist kein Abschied von Hoffnung, sondern ein Moment der Liebe, in dem alles Wichtige gesagt und alles Unwichtige losgelassen werden kann.

 

Dieser Abschied in Würde ist auch für das medizinische Team und die Angehörigen ein kostbarer Augenblick. Es ist eine Erinnerung daran, dass der Tod nicht das Ende der Liebe ist und dass die letzten Momente, wenn sie in Zuwendung und Liebe geschehen, eine Kraft haben, die den Schmerz überdauert. Ein Arzt, der bis zum Ende dabei ist, der Mut und Trost schenkt, leistet eine der wertvollsten Aufgaben, die es in der Medizin gibt.

 

Ein Gedanke, der bleibt

 

„Am Ende wird nicht gezählt, wie viel Zeit wir hatten, sondern wie viel Leben in der Zeit war.“ Dies ist ein Gedanke, der bleibt – für alle, die diesen Weg gehen müssen, und für die, die ihn begleiten. Denn das Leben mag uns begrenzt erscheinen, aber seine Kraft ist in jedem Augenblick spürbar, wenn wir mutig, neugierig und liebevoll bleiben.

 

Mögen wir alle – ob Patient, Angehöriger oder Arzt – das Bewusstsein in uns tragen, dass jeder Moment eine Chance ist, etwas Schönes zu schaffen.

 

Martin G. Müller

Spektrum Dialyse