von Martin G. Müller Spektrum Dialyse
Artikel aus Patientensicht erstellt:
Ein modernes Gesundheitssystem sollte in erster Linie eines sein: sicher. Doch in deutschen Kliniken, Pflegeheimen und Arztpraxen zeigt sich ein anderes Bild. Patientensicherheit ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern vielfach nur noch Glückssache. Dialysepatienten, Transplantierte, ältere Menschen und chronisch Kranke, die auf umfassende medizinische Betreuung angewiesen sind, erleben tagtäglich, wie Versorgungsengpässe, Personalmangel und wirtschaftliche Zwänge den Schutz der Patienten massiv untergraben. Dabei drängt sich die entscheidende Frage auf: Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem – wer übernimmt die Verantwortung für eine Entwicklung, die für so viele Patienten inzwischen lebensgefährlich geworden ist?
Ein System am Rande des Kollapses
Die Berichte aus Kliniken und Pflegeeinrichtungen sind alarmierend. In einer deutschen Uniklinik liegt eine ältere Patientin – geistig klar, analytisch und empört – seit vier Tagen stationär, ohne dass ein Arzt sie über ihre Blutwerte, die weitere Behandlung oder den Zeitpunkt des Behandlungsbeginns informiert hätte. Zudem fehlt ihr regelmäßig das Essen, da Behandlungen immer wieder kurzfristig angesetzt und dann abgesagt werden. Frühstück und Mittagessen bleiben danach schlichtweg aus.
Doch dies ist nur ein Beispiel. Andere Patienten werden für Magen- oder Darmspiegelungen aufgenommen, haben die Vorbehandlung bereits hinter sich, kommen in die Vorbereitung – und müssen dann wieder nach Hause, weil der zuständige Arzt erkrankt ist und kein adäquater Ersatz gefunden wird. Manche warten auf einen Herzkatheter-Eingriff, werden – trotz intensiver Vorbereitung – wegen eines Notfalls im Katheterlabor wieder entlassen. Besonders dramatisch wird es bei Transplantationspatienten: So saß eine Patientin von 6:00 bis 15:00 Uhr nüchtern und ohne Flüssigkeit im Warteraum, nicht im Patientenzimmer in der Klinik – ein erhebliches Risiko für ihr Transplantat. Als sie schließlich aufgerufen wurde, scheiterten vier Punktionsversuche, und dann hieß es unvermittelt: „Wir haben heute keine OP-Kapazität mehr für Sie.“ Diese Patientin wurde – ohne adäquate Versorgung – nach Hause geschickt. Solche Vorfälle lassen nicht nur das Vertrauen der Patienten erschüttern, sondern zeugen von einem System, das am Rande des Zusammenbruchs steht.
Ein ebenso gravierender Fall: Eine Patientin wurde mit falschen Medikamenten entlassen. Obwohl das Pflegepersonal die Verwechslung bemerkte, reagierte niemand – zum Glück entdeckte die Patientin selbst den Fehler und hat die fehlerhaften Medikamente entsorgte. Rückrufe von Ambulanzteams bleiben aus, lebenswichtige Blutwerte werden nicht übermittelt, und wer versucht, sich die Informationen zu beschaffen, findet nur geschlossene Leitungen und unbeantwortete E-Mails. Patienten stehen dabei oft hilflos da.
Ein Transplantationspatient wurde zudem darüber informiert, er solle sich nach der Transplantation selbst um einen niedergelassenen Nephrologen kümmern – denn die Klinik sieht sich nicht mehr in der Lage, eine adäquate Nachsorge zu gewährleisten. Was einst als selbstverständliche ärztliche Verantwortung galt – nämlich sowohl für den Organempfänger als auch für den Organspender und dessen Familie Sorge zu tragen – schwindet zusehends. Während Patienten und Organisationen wie die Deutsche Stiftung Organtransplantation mit zahlreichen Projekten für eine stärkere Dankeskultur und höhere Organspendezahlen kämpfen, scheitert so die sichere Versorgung zur Organerhaltung in den Kliniken immer häufiger.
Der Preis des Profitstrebens
Was früher eine Ausnahme war, wird zur Regel: Transplantierte mit kaum noch Nierenfunktion, die dringend stationär behandelt werden müssten, werden abgewiesen, weil ihr Aufenthalt als unwirtschaftlich gilt. Krankenhausverwaltungen argumentieren offen, dass ein Bett, das zwei Wochen von einem Patienten belegt wird, sich nicht rechnet, wenn in derselben Zeit drei andere Patienten behandelt und abgerechnet werden können. In der Realität benennt eine Beratungsfirma für Krankenhäuser es so: „Bessere Ressourcenverwendung ist die Belegungsplanung – konkret: die Bettenauslastung. Mit einer hohen Bettenauslastung steigern Sie Ihre Einnahmen.“ Das Management drängt darauf, die Häuser so aus den roten Zahlen zu führen – selbst wenn dies zulasten der Patientensicherheit geht. Der hippokratische Eid, der für eine ethische Grundhaltung aller Ärzte stehen sollte, wirkt in diesem System fast hohl – überlastete Ärzte können hier kaum noch adäquat handeln.
Doch nicht nur die Patienten leiden. Auch das medizinische Personal ist zunehmend überlastet. Es ist heute keine seltenheit, dass eine Medizinische Fachangestellte in einer Dialysestation mancherorts bis zu 15 Patienten gleichzeitig betreut – eine Zahl, die vor wenigen Jahren noch undenkbar war. Eine psychosoziale Betreuung oder eine adäquate Shuntversorgung, die für viele Patienten lebenswichtig ist, wird dadurch unmöglich. Auf Intensivstationen gilt teils schon ein Patientenschlüssel von 1:4, und die Pflegekraft ist oft in zwei verschiedenen Zimmern gleichzeitig tätig. Besonders bei beatmeten Patienten stellt dies eine akute Gefahr für Leib und Leben dar. Ist die Pflegekraft in einem Zimmer mit einer Behandlung beschäftigt, kann sie nicht sofort reagieren, wenn im anderen Zimmer ein Notfall eintritt – was zu vermeidbaren Reanimationen führt.
Patientensicherheit als Grundrecht – und doch eine Illusion
Das deutsche Grundgesetz garantiert in Artikel 2 das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, während Artikel 1 die Unantastbarkeit der Menschenwürde fordert. Doch in einer medizinischen Infrastruktur, in der Patienten zu reinen Kostenfaktoren degradiert werden, bleiben diese Grundrechte zunehmend Theorie. Wie soll die Menschenwürde gewahrt bleiben, wenn Bewohner von Pflegeheimen in ihren eigenen Fäkalien oder ihrem Erbrochenen liegen, in nassen Windeln vergessen werden oder auf der Toilette verharren, weil niemand kommt? Wenn ihnen das Essen nicht angereicht wird oder zu schnell wegenommen wird, obwohl sie selbst nicht mehr essen können und wenn nur sehr langsam? Oder wenn sie ins Bett machen müssen, weil in der Klinik keine Pflegekraft verfügbar ist – und wenn doch, weil die Zeit fehlt, um sich angemessen zu kümmern?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in ihrem Globalen Aktionsplan für Patientensicherheit 2021–2030 festgestellt, dass unsichere medizinische Versorgung eine der Hauptursachen für vermeidbare Todesfälle ist. Jährlich erleiden Millionen Patienten Schäden, die durch eine sichere Gesundheitsversorgung verhindert werden könnten – Deutschland bildet hier keine Ausnahme.
Die Zahlen sind erschreckend: Jedes Jahr sterben in Deutschland laut Schätzungen bis zu 20.000 Menschen an den Folgen von Behandlungsfehlern. Weltweit sind es laut WHO sogar bis zu 2,6 Millionen Todesfälle jährlich (5 Opfer in der Minute) durch medizinische Fehler. Zum Vergleich: Die weltweite COVID-19-Pandemie forderte im ersten Jahr etwa 1,9 Millionen Todesopfer – und es wurden massive Maßnahmen ergriffen, um Leben zu schützen. Während für Lockdowns, Impfkampagnen und Notfallpläne Milliarden investiert wurden, bleibt das Problem der Behandlungsfehler und strukturellen Missstände im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten weitgehend unbeachtet – auch von der Presse.
Der Medizinische Dienst erstellte im Jahr 2022 insgesamt 13.059 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern. „In jedem vierten Fall wurde ein Fehler mit Schaden festgestellt, in jedem fünften Fall war dieser Fehler direkt ursächlich für den erlittenen Schaden.“ (Quelle: Pressemitteilung des Bundes Medizinischer Dienst, 17.08.2023).
Um die Patientensicherheit zu verbessern, sollten schwerwiegende, aber sicher vermeidbare Ereignisse – wie Seiten- oder Medikamentenverwechslungen (sogenannte
„Never Events“) – verpflichtend gemeldet werden. „Das ist internationaler Standard in der Patientensicherheit. Es ist aus Patientensicht nicht hinnehmbar, dass Deutschland dies nicht
umsetzt.“
Der Pflegenotstand und die Kostenkrise
Die Zahl der Pflegekräfte, die den Beruf aufgrund von Überlastung und Burnout verlassen, ist alarmierend. Laut Statistiken haben in den letzten zehn Jahren Zehntausende Pflegekräfte das System verlassen – häufig zugunsten anderer Branchen. Stationen bleiben leer, Pflegeheime müssen Patienten ablehnen, und ambulante Pflegedienste können den Bedarf nicht mehr decken.
Das Statistische Bundesamt erklärte in seiner Pressemitteilung vom 24.01.2024: „Der Bedarf an Pflegekräften steigt bis zum Jahr 2049 im Vergleich zu 2019 voraussichtlich um ein Drittel auf 2,15 Millionen. Laut Pflegekräftevorausberechnung liegt die erwartete Zahl an Pflegekräften im Jahr 2049 zwischen 280.000 und 690.000 unter dem tatsächlichen Bedarf. Diese Vorausberechnung setzt konstante Verhältnisse in der Pflege und bei den Arbeitsbedingungen voraus.“
Währenddessen steigen derzeit die Kosten für den Eigenanteil in Pflegeheimen auf bis zu 3.456 Euro pro Monat (Beispiel Bremen). Laut Rentenatlas 2024 (Pressemitteilung vom 25.11.2024) lag die durchschnittliche Altersrente nach mindestens 35 Versicherungsjahren im Bundesdurchschnitt bei 1.809 Euro für Männer und 1.394 Euro für Frauen. Wer kann sich Pflege so noch leisten? Wer zu Hause pflegt, erhält dafür kaum eine finanzielle Kompensation und verzichtet zusätzlich auf den eigenen Beruf. Für junge Pflegebedürftige gibt es nur wenige spezialisierte Pflegeeinrichtungen. Die Folgen sind absehbar: Immer mehr Menschen bleiben ohne adäquate Versorgung.
Politisches Versagen auf ganzer Linie
Die Politik bleibt auffallend untätig. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass der Personalmangel im Gesundheitswesen dramatische Ausmaße annimmt. Die Versorgungsqualität sinkt, während der wirtschaftliche Druck auf Kliniken steigt. Medizinische Fachkräfte verlassen das System, junge Ärzte werden ins kalte Wasser geworfen und müssen sich selbst zurechtfinden – häufig unter erheblichen Sprachbarrieren – und stehen so vor unhaltbaren Arbeitsbedingungen. In den nächsten zehn Jahren werden in Deutschland insgesamt 50.000 Ärzte fehlen (Quelle: Deutsches Ärzteblatt, 15.04.2024).
„Jede achte Ärztin und jeder achte Arzt, die wir dringend benötigen, hatte 2023 keine deutsche Staatsangehörigkeit.“ (Quelle: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes, 27.05.2024). Diese Sprachbarrieren stellen insbesondere bei der Erhebung von Anamnesen und der Besprechung von Behandlungsplänen eine große Herausforderung dar. Wer soll unter diesen Bedingungen noch eine adäquate Versorgung gewährleisten? Antworten bleiben aus, und diese Probleme werden – wenn überhaupt – nur als Einzelfälle deklariert.
Gerade jetzt, nach der Bundestagswahl, in der von einer Partei mit Parolen wie „Ausländer raus“ oder „Grenzen zu“ geworben haben, sollte diesen Wähler klar sein: Ohne Pflegekräfte mit Migrationshintergrund müssten diese Wähler die Pflege ihrer Angehörigen zu Hause selbst übernehmen oder könnten sich selbst nicht pflegen lassen. Denn ohne ausländische Beschäftigte würde das Pflegesystem vollständig kollabieren – das bestätigt eine aktuelle Studie (Quelle: Tagesschau, 15.10.2024). Der Zuwachs an Fachpersonal durch ausländische Kräfte steigt dabei deutlich an.
Ob diese Wähler ihre Entscheidung wirklich gut durchdacht haben, bleibt fraglich. Wie in einem deutschen Orchester, in dem nicht ausschließlich deutsche Musiker sitzen, ist Vielfalt oft entscheidend für den Klang – ob im Konzertsaal oder im Gesundheitssystem. Fremdenfeindlichkeit mag provinziell wirken, doch noch problematischer ist sie, wenn man auf fremde Kräfte angewiesen ist.
Presseberichte bestätigen das Bild des Pflegenotstands und der Überlastung. In Krankenhäusern mehren sich Proteste über überlastete Pflegekräfte. Eine Petition einer langjährigen Pflegekraft erreichte innerhalb weniger Tage Hunderte Unterschriften – die Vorwürfe lauten: unzumutbare Arbeitsbedingungen, zu wenig Personal, Patienten in Gefahr. In einem saarländischen Krankenhaus klagte ein Chefarzt gegen seine Kündigung, nachdem er Missstände öffentlich gemacht hatte. Ein klares Muster zeigt sich: Wer Probleme benennt, wird sanktioniert – anstatt dass Missstände behoben werden. Renommierte Chefärzte verlassen solche Kliniken immer häufiger – zum Leidwesen einer funktionierenden Patientenversorgung.
Patientenfürsprecher und Patientenbeauftragte auf Klinik-, Länder- oder Bundesebene erweisen sich nicht als effektiv, wenn es um die Wahrung von Patientenrechten geht – ebenso wie das hochgelobte Qualitätsmanagement. Obwohl ein Patient in einer Uniklinik unter Berufung auf das Gesundheitsministerium auf ein fehlerhaftes Computerprogramm aufmerksam machte, das Patientendaten nicht speichert und somit keine sichere Versorgung gewährleistet, blieben die Patientenfürsprecher und offiziellen Stellen bis heute – drei Jahre später – untätig. Die ursprüngliche Aufgabe der Qualitätsbeauftragten, Mängel zu identifizieren und zu beseitigen, scheint heute häufig darin zu bestehen, Mängel als „sichere Faktoren“ umzudeklarieren. Im Fall des fehlerhaften Computerprogramms wurde beispielsweise behauptet, das Programm sei sicher – lediglich das Personal müsse aufgrund von Bedienungsfehlern nochmals intensiv geschult werden. Damit werden Ärzte und Pflegekräfte de facto als unfähig dargestellt, und zahlreiche Fehler werden bewusst heruntergespielt.
Auch die fehlerhafte Umsetzung von Hygienemaßnahmen, für die es zahlreiche Vorschriften zur Patientensicherheit gibt, bleibt häufig auf der Strecke. Reinigungspersonal arbeitet unter immensem Zeitdruck, wodurch Patientenzimmer oft nur oberflächlich gesäubert werden – Schmutz und Keime des Vorgängers bleiben zurück. Investigative Recherchen, wie die von Team Wallraff, haben gezeigt, dass selbst sensible Bereiche über Wochen nicht ausreichend gereinigt werden. Die Folge: Jährlich erkranken in Deutschland rund 500.000 Patienten an gefährlichen Krankenhausinfektionen, Tausende sterben daran. Besonders betroffen sind Dialyse- und Transplantationspatienten, für die eine Infektion lebensbedrohlich sein kann. Doch statt Patientensicherheit steht auch hier die Kostenoptimierung im Vordergrund – mit fatalen Folgen. Auch bei der sicheren Isolierung von Infektionspatienten kommt es immer wieder zu schweren Missständen in der Umsetzung um "gesunde" Patienten nach Vorgaben zu schützen.
Ein weiterer gravierender Missstand ist die mangelhafte Verpflegung in Kliniken. Für die gesamte Tagesverpflegung eines Patienten stehen durchschnittlich nur 3,00 bis 6 Euro zur Verfügung – in einigen Einrichtungen sogar noch weniger. Zum Vergleich: Ein Bürgergeldempfänger erhält laut Regelsatz rund 6,51 Euro pro Tag für Lebensmittel. Die knappen Budgets führen dazu, dass Krankenhäuser auf billige Massenware setzen, oft mit minderwertiger Qualität und geringer Nährstoffdichte. Zu oft führt das Essen zum Würgereiz und zu Hungergefühlen, weil es zu wenig gibt. Besonders für Dialyse- und Transplantationspatienten, die auf eine ausgewogene Ernährung angewiesen (Eiweiß wie Kalorienreich) sind, kann dies gesundheitliche Folgen haben. Während Ernährung ein zentraler Faktor für die Genesung sein sollte, wird sie in der Realität zur Sparmaßnahme.
Was muss geschehen?
Die Frage ist längst nicht mehr, ob sich das Gesundheitssystem ändern muss, sondern wie schnell. Ohne massive Investitionen in Personal, eine bessere Honorierung pflegerischer Berufe und eine Abkehr von rein wirtschaftlichen Entscheidungsmechanismen in der Krankenhauslandschaft wird die Lage weiter eskalieren. Ein funktionierendes Gesundheitssystem darf sich nicht primär nach Profitabilität richten, sondern muss sich am Patientenwohl orientieren – was es schon lange nicht mehr tut!
Ein Arzt- oder Kliniktermin im Krankheitsfall, der erst in einigen Monaten stattfindet, ist nicht im Sinne des Patientenwohls – er verursacht zusätzlich Millionen Kosten im Gesundheitssystem. „Der Deutschen Stiftung Patientenschutz zufolge warteten gesetzlich Versicherte oft 30 Tage oder deutlich länger auf einen Arzttermin.“
Eine mögliche Lösung könnte eine gesetzliche Mindestpersonalregelung sein, die nicht nur auf dem Papier existiert, sondern auch effektiv kontrolliert wird. Doch in der Praxis ist dies kaum umsetzbar, da nicht genügend Pflegekräfte für den Beruf gewonnen werden. Um diesem Trend entgegenzuwirken, müssten Pflegekräfte finanziell und gesellschaftlich aufgewertet werden – anstatt durch unzählige Überstunden über ihre Belastungsgrenze hinaus ausgepresst.
Wie eine aktuelle Auswertung der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt, waren Pflegekräfte im vergangenen Jahr durchschnittlich 29,8 Tage krankgeschrieben – so lange wie nie zuvor. 2021 lag der Durchschnittswert noch bei 23,3 Tagen, 2022 bereits bei 28,8 Tagen. Diese Zahlen verdeutlichen die zunehmende physische und psychische Belastung in der Pflege.
Zudem darf es nicht sein, dass sich Arbeitnehmer – insbesondere Teilzeitkräfte – ihr Recht auf faire Bezahlung erst vor Gericht erstreiten müssen. Wie die Tagesschau am 5. Dezember 2024 berichtete, entschied das Bundesarbeitsgericht in Erfurt in einem Grundsatzurteil: „Teilzeitbeschäftigte dürfen bei Überstundenzuschlägen nicht mehr schlechter behandelt werden als Vollzeitbeschäftigte.“ Auch das Wort Mindestlohn dürfte es in der Pflege gar nicht geben.
Wenn ein solches Urteil gefällt wird, sollte der Gesetzgeber verpflichtet sein, die entsprechenden Pauschalen automatisch anzupassen, damit diese Kosten nicht allein von den Arbeitgebern getragen werden müssen. Andernfalls verschlechtert sich auf der Gegenseite die Patientenversorgung weiter, da an Material und Personal gespart wird.
Wer sich um Menschenleben kümmert, darf nicht schlechter gestellt sein als ein Sachbearbeiter in der Verwaltung. Nur wenn die Arbeitsbedingungen in der Pflege nachhaltig verbessert werden, könnte auch die große Zahl an Pflegekräften, die mittlerweile in andere Branchen abgewandert ist, wieder Lust bekommen ins Gesundheitssystem zurückkehren.
Medikamentenmangel
Ein funktionierendes Gesundheitssystem bedeutet nicht nur eine gute medizinische Versorgung, sondern auch die sichere Verfügbarkeit essenzieller Medikamente. Doch genau hier zeigt sich ein weiteres Versagen: Immer mehr wichtige Arzneimittel sind nicht oder nur schwer erhältlich.
Antibiotika, Hustensäfte für Kinder, Schmerzmittel, Immunsuppressiva für Transplantierte sowie essenzielle Präparate für Dialysepatienten – von einfachem Bicarbonat und Kochsalzlösungen bis hin zu Katheter-Spüllösungen, Kathetern selbst und Heparinen – unterliegen Lieferengpässen oder werden aus wirtschaftlichen Gründen vom Markt genommen.
Pharmaunternehmen produzieren, was sich finanziell lohnt – viele bewährte, aber wenig rentable Medikamente verschwinden hingegen aus dem Sortiment. Kliniken und Apotheken kämpfen mit Engpässen, während Patienten teils wochenlang auf dringend benötigte Arzneimittel warten. Für chronisch Kranke kann dies schwerwiegende Folgen haben: Fehlt ein immunsuppressives Medikament, droht eine Organabstoßung. Bleibt ein Schmerzmittel unerreichbar, leiden Patienten unnötig.
Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt dieses Systems – sondern die Frage, ob sich seine Therapie wirtschaftlich rentiert, sei es in der medikamentösen Versorgung oder im Klinikbetrieb.
Perspektiven für eine Verbesserung
Dennoch gibt es Anzeichen für positive Veränderungen: Einige Kliniken haben begonnen, in modernste IT-Systeme zu investieren, um Patientendaten sicherer zu verwalten und die Kommunikation zwischen Ärzten und Pflegekräften zu optimieren. Pilotprojekte zur Einführung gesetzlicher Mindestpersonalregelungen und zur besseren finanziellen Aufwertung des Pflegepersonals werden bereits erprobt – in einigen Einrichtungen zeigen sich erste Effekte: kürzere Wartezeiten, verbesserte Hygiene und eine intensivere persönliche Betreuung der Patienten. Diese Ansätze, kombiniert mit einer stärkeren Einbindung von Patientenfürsprechern, der Selbsthilfe und transparenten Qualitätskontrollen, könnten das Gesundheitssystem nachhaltig stärken und die Patientensicherheit wieder in den Mittelpunkt rücken. Leider sind die Projekte zu wenig und finden nicht den Anklang den sie benötigten um zeitnah eine Veränderung zu bewirken.
Fazit
Die aktuelle Situation zeigt eindrücklich: Patientensicherheit ist längst kein Grundrecht mehr, sondern ein Glücksspiel. Solange Klinikträger und Politik die Krise aussitzen, bleibt für viele Patienten beim Eintritt ins Krankenhaus die bange Frage: „Werde ich gut versorgt – oder falle ich durchs Raster?“
Doch nicht nur Patienten leiden unter diesem maroden System – auch Pflegekräfte, Ärzte und medizinisches Personal stehen unter enormem Druck. Sie arbeiten an der Belastungsgrenze, oft bis zur Erschöpfung, ohne die notwendige Unterstützung oder Anerkennung. Gleichzeitig verschärft der anhaltende Medikamentenmangel die Lage zusätzlich: Essenzielle Arzneimittel sind nicht oder nur schwer verfügbar, wodurch lebenswichtige Therapien verzögert oder unmöglich werden. Für viele chronisch Kranke kann das gravierende gesundheitliche Folgen haben.
Das deutsche Gesundheitssystem, einst ein internationales Vorbild, gleicht vielerorts nur noch einer brüchigen Fassade. Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes, die die Würde und körperliche Unversehrtheit jedes Menschen garantieren, scheinen im Klinikalltag längst außer Kraft gesetzt – für Patienten ebenso wie für die überlasteten Mitarbeiter.
Es braucht jetzt mehr als leere Versprechen. Ohne strukturelle Reformen, bessere Arbeitsbedingungen für Fachkräfte und eine Rückbesinnung auf das Patientenwohl wird
sich die Lage weiter verschärfen – mit unabsehbaren Folgen für eine Gesellschaft, die auf ein funktionierendes Gesundheitssystem angewiesen ist. Die Frage ist nicht mehr, ob sich etwas ändern
muss, sondern ob wir die Kurskorrektur noch rechtzeitig schaffen, bevor das System endgültig kippt. Aus Patientensicht erkenne ich aber keine Taten, die eine Verbesserungen in naher Zukunft
bewirken könnten.