23.12.2023 – 9:46 Uhr: WhatsApp meldet eine Nachricht! „Würde gerne heute Nachmittag vorbeikommen! Wann kann man dich zuhause antreffen?“ Meine Antwort: „Ich freue mich zwar immer über einen Besuch von euch, aber die Tradition wird nicht gebrochen. In 14 Tagen ist bei mir die Feier zum 6. Advent und da seid ihr eingeladen!“ Rückfrage: „Also willst du dein Geschenk nicht zu Heiligabend?“ Antwort: „Nein, wie in den letzten ca. 10 Jahren am 6. Advent bei mir. Mir würde da wirklich eine liebgewonnene Tradition fehlen!“ Antwort: „Okay, wie du willst!“
„Ein Auszug aus einem Gespräch zwischen mir und meiner Lieblingscousine Andrea.“ Andrea hat, neben vielen anderen liebevollen Eigenschaften, die besondere Gabe, Geschenke zu machen, die das Herz erfreuen. Sie hört genau zu. So fallen ihre Weihnachtsgeschenke immer so aus wie zu Kindheitszeiten, als die Augen vor Freude strahlten. Es bereitet ihr schon beim Einkaufen Freude, genau zu wissen, was der andere gerne hätte, und ihr größtes Geschenk ist es, das überraschte, strahlende Gesicht des Beschenkten beim Auspacken zu erleben.
Während sie immer genau weiß, was sie mir schenken kann, bin ich in diesem Punkt völlig einfallslos. Genau zu wissen, was dem anderen gefallen könnte, fällt mir sehr schwer. Mein Fehler ist wohl, dass ich in den bestimmten Momenten nicht genau hinhöre. So endet es bei mir auch immer im praktischen Denken – in einem Gutschein vom Baumarkt, für Dinge, die sie in ihrem heißgeliebten Garten anschaffen kann. In diesem Kleinod der Natur steckt in jeder Ecke ihr Herz und ihre Seele. Der Garten ist Andrea pur, da kann man sie erleben und spüren. So denke ich immer, sie könne einen Gutschein am besten in schöne Dinge umsetzen, um den Garten weiter auszubauen. Ich finde es allemal passender, als mit zwei leuchtenden Flamingos oder Ähnlichem unterm Arm zu erscheinen, wo das Auge vor Grauen nicht mehr wegschauen kann.
Wo sich so meine klassische Geschenkeliste mit Gutscheinen, Deko für die Wohnung und Pralinen mit Wein liest, erinnere ich mich an folgende Geschenke von ihr: Großbild-TV, Sprudel-Max, Teemaschine, DAB-Radio, eine antike Uhr, eine Alexa, Omas alte Nähmaschine, ein Wohnzimmertisch, ein Modellauto Taxi 200 D /8 beleuchtet aus den 70er-Jahren und vieles vieles mehr. Sie schenkt zu jedem Anlass und kommt nie ohne ein Mitbringsel zu Besuch. Insbesondere ihre Kuchen (Gewürzkuchen) hatten es mir, als ich noch durfte, immer angetan. Ich besitze von ihr noch Weihnachtsdeko aus den 80er-Jahren. Zu meiner Cousine habe ich seit meiner Geburt immer schon einen herzlichen und liebevollen Kontakt. Das sind jetzt schon über 50 Jahre. Sicher gab es mal Diskussionen, aber nie ein böses Wort oder einen Streit. Auch in meiner Krankheit ist sie stets an meiner Seite! Noch enger, seit mein Vater 2019 verstorben ist. Sie kümmert sich mit ihrer Familie um mich. Sie gibt so viel, und ich, um ehrlich zu sein, so wenig …
Ich komme noch einmal auf die WhatsApp-Nachricht vom Anfang zurück. Mit meinem Beharren auf die Tradition habe ich einen sehr schönen Moment verstreichen lassen, ja, um ehrlich zu sein, verpasst.
Das von ihr erwähnte Weihnachtsgeschenk vom 23. Dezember 2023 erhielt ich am 20. Oktober 2024, als wir mit der Familie vom Essen in meine Wohnung zurückkehrten. Ihr Mann übergab es mir. Warum er? Andrea ist nach Weihnachten so schwer erkrankt, dass sie Anfang März, für uns alle bis heute unfassbar, verstorben ist. Wir standen in dieser Zeit zwar täglich in Kontakt, aber gesehen haben wir uns nicht mehr. Ihr persönliches Weihnachtsgeschenk von mir und das zu ihrem 65. Geburtstag, wieder Gutscheine für den Garten, überreichte ich in der Trauerkarte an die Familie mit …
Wie habe ich ihr Lachen vermisst, das ich vor meinem geistigen Auge sah und sie in meiner Vorstellung vor mir beim Auspacken! Mein Geschenk: eine Wetterstation und Weihnachtsdeko. Sie hatte wieder das ganze Jahr über genau zugehört. In diesem Moment war sie mit ihrem Lächeln ihr Ausstrahlung und als Person noch einmal sehr präsent in meinem Wohnzimmer. Meine Augen strahlten jedoch nicht, denn innerlich war ich sehr traurig. Mit meinem Festhalten an dieser dummen Tradition, dem Feiern des 6. Advent (eine über die Jahre entstandene Bezeichnung), habe ich uns einen letzten, unbeschreiblichen Moment unbewusst verwehrt.
Wie viele solcher Momente gehen in unserem Leben unbewusst verloren? Die einen sind die, in denen Menschen sich entscheiden, etwas zu tun oder zu lassen, und es später "bereuen". So wie ich! Doch im Augenblick meiner gewohnten Entscheidung wusste ich es nicht besser. Im Vordergrund meiner Entscheidung standen die schönen Erfahrungen der Vergangenheit. Diese Gründe kann man im Nachhinein als Blödsinn empfinden, aber zum Zeitpunkt der Entscheidung waren sie für mich relevant, und damit war es die normale Entscheidung zu diesem Zeitpunkt. Ich hatte die schönen gemeinsamen Stunden der letzten Jahre im Blick und wollte diese wieder mit neuen Eindrücken und Erinnerungen erlebbar machen. Nun steht Trauer …
Wir Menschen denken, tun und glauben seltsame Dinge, wenn wir trauern. Besonders, wenn wir die Lücken spüren, die unsere Liebsten hinterlassen. Da sind diese verpassten Momente – die Telefongespräche, die Besuche, die gemeinsamen Feiern spürbar machen. Wir spüren im Herzen diese schmerzenden Stellen in unserem Leben, die plötzlich leer sind, aber noch so sehr nach ihr riechen, nach ihrer Stimme klingen. Es sind Augenblicke, die wir nie mehr mit ihr erleben werden, und doch bleiben sie tief in uns. Nichts ist so endgültig wie der Tod. So unglaublich. Der Tod stellt alles auf den Kopf.
Was ist nun aber mit den versäumten Momenten und Gelegenheiten ...?
In Janosch's Kinderbuch „Oh wie schön ist Panama“ lassen der kleine Bär und der kleine Tiger dreimal eine vorbeischwimmende Flaschenpost mit Schatzkarte unbeachtet, weil sie in andere Abenteuer vertieft sind. Für den Leser wirkt es zunächst wie eine verpasste Gelegenheit. Doch genau diese unbemerkten Momente führen dazu, dass die beiden unvergessliche Erlebnisse sammeln: Sie helfen anderen, entdecken Neues und genießen ihre Reise in vollen Zügen. Am Ende finden sie ihren Schatz auf ihre Weise – und zeigen, dass verpasste Chancen oft zu unerwartetem Glück führen können.
Diese Metapher lässt sich auf vieles anwenden, auch auf diesen verpassten Moment mit meiner Cousine. Eventuell lässt die Situation die unbewussten Zusammenkünfte der Vergangenheit, die jetzt so schmerzhaft im Herzen und Fühlen fehlen, so in der Erinnerung noch wertvoller erscheinen. So bleiben viele Erlebnisse in der Erinnerung erhalten als vielleicht „nur“ das der letzten Weihnacht. Die Besonderheit meiner Cousine in ihrer großen Lebendigkeit bleibt so in größerer Erinnerung als der letzte, erdrückende Moment, der von Krankheit überschattet gewesen wäre. Dies kann dazu beitragen, dass ich ihre Lebendigkeit in Gesprächen mit der Familie als schöne und wohltuende Erinnerung weitergeben kann – im Gegensatz zu den prägenden Bildern von Trauer und dem Abschied am Ende ihres Lebens, vor ihrem leblosen Körper, der einst die Energie wie Mittelpunkt der Familie war. Auch diesmal habe ich diese Momente verpasst, weil ich jedoch wusste, dass Andrea es wohl so wollte. Vieles trug sie in ihrem Inneren aus, ohne es nach außen zu zeigen. Manchmal stellt das Leben Weichen, deren Tragweite sich erst mit Abstand durch solche „verpassten Momente“ erkennen lässt.
Vielleicht sind es unerkannt Geschenke Gottes, die wir in unserem Denken so nie erkennen würden? Man denkt beim aktuellen Weihnachtsfest nicht an das nächste, sondern an die schönen Momente, die uns Weihnachten mit unseren Lieben in der Vergangenheit schenkte, aus denen auch viele unserer eigenen Weihnachtstraditionen über die Jahre entstanden sind. So wird auch diese Wetterstation, mein letztes Geschenk von ihr, immer ein ganz besonderes, bis ich sie wiedersehe, bleiben. Es zeigt mir nämlich, wie groß die Liebe meiner Cousine zu mir war. Sie hat mit einem großen Herzen zugehört und trotz ihrer schweren Krankheit auch diesen Einkauf voller Liebe bewältigt – wie über all die Jahre. Etwas in Liebe zu tun, trägt einen in der Krankheit über schwere Zeiten und spendet Kraft. So ist man in manchen Handlungen, in denen man eigentlich persönlich gar keine Rolle spielt, unbewusst nah bei den Menschen.
Vor kurzem erhielt ich die Nachricht, dass man im Geldbeutel eines verstorbenen Freundes, zu dem ich lange keinen Kontakt mehr hatte, ein gemeinsames Bild unserer Freundesgruppe aus früheren Zeiten gefunden hat – ein Zeichen, wie wichtig ihm diese Erinnerungen waren. Auch eine Frau, die wie ich an der Dialyse war, rief mich nur wenige Stunden vor ihrem Tod an, um sich für manches, was ihr in wohltuender gemeinsamer Erinnerung geblieben war, zu bedanken. Man selbst schenkt oft unbewusst solche Momente und bekommt solche auch im Leben als wertvolle Geschenke des Herzens, die einen bis zum Lebensende zum Beschenkten machen zurück.
Diese Geschenke wie auch Erinnerungen sind es, die erfreuen und auch die wichtigsten zu Weihnachten sind. Um dies zu erkennen, bedarf es aber auch ein hörendes Herz! Herzensgeschenke die für immer bleiben – nicht die, die man im Einzelhandel kauft.
Weihnachten ist so eine Zeit des Lichts, das in die Dunkelheit strahlt, aber auch eine Zeit, in der viele von uns an verpasste Gelegenheiten und verlorene Momente denken. Vielleicht fragen wir uns, warum wir manche Chancen nicht ergriffen haben oder warum uns Beziehungen manchmal erst bewusst werden, wenn es zu spät scheint.
Vor fünf Jahren ist mein Vater viel zu früh gestorben, und die Trauer um ihn begleitet mich bis heute. Manchmal, wenn eines seiner Lieblingslieder plötzlich im Radio läuft, steigen mir die Tränen in die Augen, und ich spüre, wie sehr er mir fehlt. Besonders zu Weihnachten, wo wir unsere ganz eigenen Traditionen hatten, wird dieser Verlust greifbarer.
Diese Zeit weckt in mir oft auch eine gewisse Angst – Angst vor der Leere, die er hinterlassen hat, und die jetzt auch durch den Verlust meiner Cousine noch deutlicher spürbar wird. Es wäre ein Geschenk, sie beide noch einmal umarmen zu können. Weihnachten und Vermissen gehören für mich zusammen, und ich weiß, dass es vielen ähnlich geht. In der Adventszeit höre ich immer wieder: „Wie soll ich diese Tage nur überstehen? Ich habe Angst vor Weihnachten.“
Den Verlust spüren und sich zugleich bewusst werden, dass dieses Gefühl der Sehnsucht uns auf besondere Weise mit den Verstorbenen verbindet. Die Familie Bonhoeffer (Familie von Dietrich Bonhoeffer) hat ein schönes Ritual, das genau das ausdrückt, und ich möchte es dieses Jahr für meinen Vater übernehmen. Ich werde einen Zweig von meinem Weihnachtsbaum abschneiden, ihn mit einer Kerze und Lametta schmücken und ihn an die Urnenwand meines Vaters legen. Dabei werde ich sagen: „Frohe Weihnachten, Papa. Du fehlst mir, und doch bist du mir so nah.“ Denn Weihnachten – das geht nicht ohne das Vermissen.
Die Weihnachtsbotschaft zu hören und diese Nacht zu feiern, in der Gott durch das Jesuskind in unsere Welt trat ist eine große Freude. Die Engel verkündeten in der Heiligen Nacht: „Fürchtet euch nicht!“ und brachten so die Botschaft des Friedens und der Hoffnung.
Doch während uns diese frohe Botschaft Freude bringen soll, ist sie auch, wie dargestellt, eine Zeit, die uns an das erinnert, was wir verloren haben: an jene geliebten Menschen, die einst an unserer Seite saßen, das Fest mit uns verbrachten, lachten und uns mit Geschenken voller Herzfreude überraschten. Wir alle haben solche Menschen in unserem Herzen – so wie der Engel den Hirten den Mut zusprach, dürfen auch wir an sie denken, auch wenn es schmerzt.
Vielleicht erinnern auch Sie sich wie ich, an eine geliebte Cousine, Freunde oder Ihre Eltern, die so fehlen, an die gemeinsamen Gespräche, das Lachen und all die kleinen Traditionen, die wir nun schmerzlich mit ihnen zusammen vermissen. Ja, Weihnachten kann Angst machen, weil uns die Abwesenheit noch deutlicher bewusst wird, wenn diese Plätze, am Weihnachtsbaum unseres Lebens, leer bleiben.
Aber genau in diesen Momenten spricht der Engel auch zu uns: „Fürchtet euch nicht.“ In unserer Erinnerung, in unserem Vermissen, bleibt die Liebe, die wir zu den Menschen hatten, lebendig. Der Stern von Bethlehem zeigt uns, dass es selbst in den dunkelsten Momenten ein Licht gibt, das für uns leuchtet und uns zeigt, dass das Leben, das wir miteinander geteilt haben, uns prägt und begleitet.
Vielleicht können wir zu Weihnachten ein Ritual gestalten, das uns unsere Verbundenheit neu spüren lässt: ein kleiner Zweig des Weihnachtsbaums, eine Kerze oder ein Gebet in Stille – als Erinnerung, dass die Liebe der Verstorbenen weiterhin bei uns ist und dass wir nicht allein sind. Gott kommt in der Heiligen Nacht, um uns die Nähe derer, die wir vermissen, spüren zu lassen und uns Mut zu schenken.
Das Jesuskind in der Krippe ist Gottes Versprechen, dass er in jeder Freude und jedem Schmerz bei uns ist und dass Liebe stärker ist als der Tod. So dürfen wir den Mut haben, die verpassten Momente nicht als endgültig zu betrachten, sondern als Teil unseres Weges – ein Weg, auf dem Gott mit uns geht.
„Fürchtet euch nicht.“ Dies ist der Ruf der Weihnacht, die uns immer wieder zur Hoffnung führt und die Kraft der Erinnerung in unser Herz legt.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest sowie ein gesundes, glückliches Jahr 2025! Mögen die kommenden Tage voller Wärme, besonderer Momente und wertvoller Begegnungen sein, die uns daran erinnern, wie bedeutend die Menschen und Augenblicke in unserem Leben sind.
Mein herzlicher Dank geht an alle, die mich auch 2024 wieder so tatkräftig unterstützt haben und mir in meiner Arbeit ihr Vertrauen schenkten. Diese wertvolle Hilfe bedeutet mir viel, und gemeinsam können wir weiterhin einen Unterschied machen. Genießen Sie das neue Jahr in all seinen Facetten, und lassen Sie es uns mit Freude und Hoffnung beginnen!
Das wünscht Ihnen von Herzen,
Ihr Martin G. Müller
Spektrum Dialyse