...ich liebe dieses Leben
und ich liebe diesen Tag
und ich liebe diese Welt...
Schon wieder Stau!
Es ist Montagmorgen, es wird gerade hell. Ich befinde mich in meinem Auto auf dem Weg zur Arbeit. Wie so oft stehe ich mal wieder im morgendlichen Stau auf der BAB60. Es ist nebelig, nass und trist schaut es draußen aus. Die Landschaft, die ich jeden Tag vom Vorbeirauschen kenne, erscheint mir im Nebel schemenhaft und ganz fremd. Die Scheibenwischer meines Autos bewegen sich alle paar Sekunden hin und her und geben den Nebeltropfen einen Stoß, so dass sie sanft an der Scheibe hinuntergleiten. Ich drehe mein Autoradio lauter. Der Song von der Gruppe JULI heftet sich in mein Gedächtnis und meine Lippen summen den Song mit. Das Auto vor mir bleibt stehen .Ich halte an. Stop and Go.
Ich seh' mich fallen,
doch ich geb nicht auf.
ich liebe dieses Leben.. !
Das Leben lieben? Tue ich das? Frage ich mich. Ja, sonst würdest Du sicher nicht in diesem Augenblick auf der Autobahn stehen. Das ich überhaupt noch lebe? So lange mit einer künstlichen Niere zu leben, grenzt das nicht an ein Wunder? Wie oft schon bin ich gefallen und bin wieder aufgestanden!
Als wäre es erst gestern passiert, erinnere ich mich an die schlimmste Zeit meines Lebens:
Am 20. August 1970 lag ich tod-sterbens-krank, noch zeitweise ohne Bewusstsein, blind, bedrohlich hoher Blutdruck, mit mehr als 10 Liter Wasser im Körper und am Ersticken nahe, auf der Intensivstation der Chirurgie in Heidelberg. Mein damaliger Lebensretter Dr. Schüler, der leider vor zwei Jahren, im Alter von 74 Jahren verstarb, hielt meine Hand und tastete erst meinen linken dann meinen rechten Unterarm nach Blutgefäßen ab. Minutenlang, konzentriert und mit geschlossenen Augen. Wenn ich nicht, wegen den urämischen Gifte, die sich in meinem Körper befanden und dem Wasser in mir, sterben wolle, müsse er mir schnellstmöglich in einer Notoperation einen Scribner Shunt legen. Einen Anschluss für dir Dialyse. Ich sah ihn nicht, aber ich hörte ihn jenen Satz zu mir sagen, der sich mir bis heute eingeprägt hat: „Kopf hoch, mein Junge, dass kriegen wir schon hin. Du schaffst das schon, Du wirst weiterleben!“
Als 14 Jähriger an terminaler Niereninsuffiziens zu erkranken, war damals einem Todesurteil gleich. Die Überlebensprognosen bei Kindern waren 1970 weniger als 2 Jahre
Warum lebe ich?
Fast alle meine besten Freunde von früher leben nicht mehr; wurden transplantiert, starben an den Folgen oder an den Begleiterkrankungen der Dialysebehandlung.
Meine Güte was waren das früher Zeiten.
Ich werde melancholisch und erinnere mich an meine Freunde aus vergangenen Tagen, an die Heidelberger Dialysezeit, 36 Jahre zurück.
An die alte Clique. Ich denke an Claudia Bütikhofer. Sie liebte auch das Leben. Bis zuletzt kämpfte sie gegen den Krebs. Sie war immer so optimistisch. Wie glücklich war sie, als sie transplantiert wurde. Als Teenager flirteten, stritten wir an der Dialyse, wie es halt unter Freunden war. An der Dialyse stand mein Bett neben ihrem Bett. Aber die meiste Zeit saß ich bei ihr im Bett (mit Scribner Shunt war das möglich). Aber die Schwestern sahen dies gar nicht gern und liefen dann kreischend aus dem Zimmer. Claudia und ich durften mit zum Heidelberger Medizinerfaschingsball. Wir feierten und tanzten mit unseren Ärzten und Schwestern bis zum Morgen. Wir durften leben.
Ich erinnere mich an meinen besten Freund Karl-Josef Thomas.(Joe), mit dem ich auf der Kinderstation alles teilte, sogar die verbotene Cola oder die erste selbst gedrehte Zigarette. Niemand durfte es auf unserer Station wissen. Der alte Stationsdrache (Stationsschwester) war streng. Claudia, Joe und ich hörten so laut Musik, dass wir auf Station Zimmerverbot bekamen und das Krankenzimmer nicht verlassen durften. Das fanden wir nicht so gut und sperrten einmal – bevor wir zur Dialyse gebracht wurden - eine Katze in den Fahrstuhl und schickten sie auf unsere Station 6. Uns wurde später erzählt, welches Chaos die Katze auf Station angerichtet hat. Wir waren die Jungen Wilden! Wir erzählten uns alles, wir gingen durch dick und dünn.
Das war die Zeit, wo wir jedes Wort eines Arztes oder einer Schwester für total überflüssig hielten.
Nächtelang hörten wir Musik, rauchten?, philosophierten über das Leben, probierten alles mögliche aus.... Joes größter Wunsch ging in Erfüllung. Nach seiner Transplantation wollte er ausgiebig leben und frei sein.
Er zog nach Berlin, er war frei – weg von der Dialyse. Eines Tages wachte er nicht mehr auf, sein Herz blieb im Schlaf stehen. Sein Traum frei zu sein, war zu kurz. Ich vermisse ihn. Ich denke oft an ihn..
Ich denke an meine Klaudia, Klaudia Dustmann, meine erste große Liebe! Auf der Station (H6) in der Heidelberger Kinderklinik haben wir uns kennen gelernt. Sie war so tapfer und stark! Die Dialyse war für sie eine Qual. Sie konnte damals nur über eine Schweinsader, die man ihr einpflanzte, dialysiert werden. Man hatte noch keine Erfahrung mit den AV Fisteln. Fünf Jahren ihres Lebens wurden ihr geschenkt. Trotz allem machte sie mit Ihren Eltern Urlaub in Spanien. Sie liebte ihr Leben. Wir planten soviel für die Zukunft und wollten unser Leben gemeinsam verbringen. Gegenseitig haben wir uns Hoffnung geschenkt. Die Maschine wurde zur Nebensache Aber sie starb kurz vor ihrem 18. Geburtstag,
Wo sind meine großen Helden hin?
denke ich und Juli singt es im Radio. Mein Auto bewegt sich ein Stück weiter.. Der Stau scheint sich aufzulosen. Der Nebel verzieht sich und einzelne Sonnenstrahlen drücken sich durch den Nebel. Der nasse Asphalt spiegelt die Sonnenstrahlen wieder. Eine Autofahrerin winkt mir freundlich zu und signalisiert, dass es nun zügig weitergeht. Heute Abend treffen meine Frau Beate und ich unsere Freunde Willi (Dialyse seit über 33 Jahren) und Christa bei unserem Italiener und es ist wahr:
„....denn ich liebe dieses Leben und ich liebe diesen Tag und ich liebe diese Welt..“
Thomas Lehn
© Thomas Lehn, 2007-2009
Was man nicht verhindern kann, ist,
dass Menschen uns irgendwann verlassen.
Aber man kann verhindern, dass sie in Vergessenheit geraten.
Copyright by Thomas Lehn